Fabelwesen
... führen uns einen Aspekt islamischer Kunst vor Augen, der die immer noch weitverbreitete Vorstellung einer un-figürlichen Kunst, limitiert durch ein religiös bedingtes 'Bilderverbot' widerlegt.
Grundsätzlich ist festzuhalten, daß ein 'Bilderverbot' inbesondere im Koran nicht existiert, es wird vielmehr abgeleitet aus verschiedenen kritischen Aussagen des Propheten zur figürlichen Darstellung, die in den später edierten Had§then (Aussprüche Mohammeds) festgehalten sind.
Die bedeutende Rolle, die Fabelwesen in der islamischen Kunst einnehmen, bezeugen die zahlreichen Darstellungen von Drache, Simurg (Phönix), Sphinx, Sirene, Greif, Senmurv, Doppeladler, Einhorn, Qilin und Buraq.
Fabeltiere und Mischwesen sind auf Geräten des täglichen Gebrauchs, vor allem aber auf repräsentativen, für Herrscher und Fürsten geschaffenen Werken, insbesondere auf tauschierten Metallarbeiten und in kostbar ausgestatteten Handschriften zu finden, können aber auch Teppiche und Textilien schmücken. Überraschend viele Darstellungen von Fabelwesen existieren in der islamischen Baudekoration, wo sie u.a. auf Holztüren, im Stuckdekor und auf glasierten Wandfliesen oder z.B. auch in der hölzernen Wandverkleidung des Aleppo-Zimmers im Pergamonmuseum vorkommen.
Zu den frühesten Belegen islamischer Fabeltiere gehören die antithetischen Darstellungen von Greif und Senmurv an der Fassade der 743-44 n.Chr. errichteten, aber unvollendet gebliebenen Kalifenresidenz Mschatta in Jordanien, die sich heute im Pergamonmuseum befindet.
Einen Höhepunkt erleben die Fabelwesen im 12. und 13. Jahrhundert besonders auf dem Gebiet der heutigen Türkei, Syriens und Irans, wobei in Persien auch in den folgenden Jahrhunderten Fabeltiere stets zum Repertoire figürlicher Darstellungen gehören.
Zu der großen Beliebtheit von Fabeltieren und Mischwesen in der islamischen Kunst haben zwei literarische Werke wesentlich beigetragen. Das um 1010 von Firdausi geschaffene 'Buch der Könige' (Schahname), das in unzähligen Kopien in der gesamten islamischen Welt verbreitet wurde, beschreibt und illustriert die Geschichte Irans von den mythischen Anfängen bis zum Einbruch des Islam, in der verschiedene Helden zahlreiche Kämpfe gegen Fabeltiere und Dämonen zu bestehen haben.
Noch bedeutender für die Verbreitung von Fabelwesen dürfte die von dem Universalgelehrten al-Qazwini (gest. 1283) verfaßte Kosmographie 'Die Wunder der Schöpfung' gewesen sein, in der neben den realen Dingen der Welt auch zahlreiche phantastische Tiere und Wesen beschrieben und dargestellt werden.
Vielfältig ist die Bedeutung islamischer Fabelwesen, die häufig vom Kontext der Darstellungen mitbestimmt wird. Außer einer apotropäischen (unheilabwehrenden) Funktion kommt verschiedenen Fabeltieren eine imperiale oder eine kosmisch-astrologische Bedeutung zu.
Grundsätzlich ist zu beachten, daß bei Übernahmen aus anderen Kulturen häufig der ursprüngliche Sinngehalt mit der Zeit verlorengeht oder bewußt verändert wird.
DRACHE
"Ein Thier von gewaltig großer Körperform, furchtbarem Anblick, sehr langer und breiter Statur, großem Kopf, funkelnden Augen, weitem Maule und Bauche, mit zahlreichen Zähnen, das eine unberechenbare Anzahl von Geschöpfen verschlingt ..." so beginnt al-Qazwini in seiner Kosmographie 'Die Wunder der Schöpfung ' das Kapitel über den Drachen.
Dieser recht allgemeinen Beschreibung stehen eine Vielzahl unterschiedlicher Drachenvarianten gegenüber, die sich jedoch im wesentlichen zwei Typen zuordnen lassen: Während der sog. Flügeldrache durch Vorderpranken eines Löwen, Flügel und einen unterschiedlich langen Schwanz, der sich mehrfach verschlingen und z.T. auch brezelförmig verknoten kann, charakterisiert ist, fehlen dem sog. Schlangendrachen Vorderpranken und Flügel, der so mitunter nur schwer von einer Schlange zu unterscheiden ist. Zu den typischen Kennzeichen gehören außerdem der weit geöffnete zahnreiche Rachen, aus dem eine gespaltene Zunge hervorkommt sowie kleine Ohren und Drachenhörner, die gelegentlich auch weggelassen werden können.
Das Drachenmotiv findet aus China kommend sehr wahrscheinlich über Zentralasien seinen Weg in den Vorderen Orient und ist erstmalig um die Mitte des 12. Jahrhunderts auf Kupfermünzen lokaler Fürstentümer im südostanatolischen Raum belegt. Nur wenig später gehört die Drachendarstellung fest zum figürlichen Repertoire islamischer Kunst und wird zu einem der beliebtesten Motive, das sich über Jahrhunderte behaupten kann.
War die Drachenfigur in China Symbol der männlichen Naturkraft (yang) bzw. in späterer Zeit - auf den Kaiser bezogen - ein imperiales Macht- und Glückssymbol, ausgehend von der prinzipiell positiven, glückverheißenden Bedeutung des Drachen, so kommen ihr in der islamischen Kunst vielfältigere Bedeutungen zu, die erst zum Teil erforscht sind.
Außer einer apotropäischen <unheilabwehrenden und schützenden> Funktion, die insbesondere für Darstellungen im Torbereich von Stadtmauern und Zitadellen gilt, können Drachen auch kosmisch-gestirnsmythologisch begründet sein.
PHÖNIX/ SIMURG
Der Simurg - nur äußerlich vergleichbar dem aus der mittelalterlichen europäischen Kunst bekannten Phönix - entspricht dem chinesischen 'feng-huang', einem der vier Zauberwesen der chinesischen Mythologie, hat also ebenso wie der Drache seinen Ursprung in China.
Das Wort Simurg stammt aus dem Persischen und bedeutet soviel wie 30 Vögel.
In der islamischen Kunst ist der riesenhafte 'Wundervogel' durch einen Raubvogelkopf mit zwei Hörnern sowie durch mehrere lange Schwanzfedern gekennzeichnet.
Große Bedeutung kommt ihm in dem 1010 vollendeten persischen 'Königsbuch' des Firdausi (Schahname) zu. Hier tritt er sowohl als wohltätiger Beschützer der Familie des Zal und seines Sohnes Rustam auf, ist anderseits aber ein Gegner des Prinzen Isfandiyar, der als fünfte Heldentat den Simurg töten muß.
In der mystischen Literatur dagegen erhält der Simurg, der auch als 'Herr der gefiederten Tiere' angesehen wird, eine völlig andere Bedeutung, indem er in einer Allegorie Gott vertritt.
Imperiale Bedeutung besitzt der Simurg im höfischen Zusammenhang, wie Darstellungen auf Baldachinen, unter denen der Herrscher thront, nahelegen. Eine solche Deutung dürfte auch für den keramischen Wanddekor eines um 1270 begonnenen Jagd- und Sommerpalastes in Nordwestiran zutreffen, der aufgrund von Ausgrabungen zu großen Teilen erschlossen werden kann. Ein typisches Wandpaneel, das abwechselnd versetzte Sechseckfliesen mit Simurg und Drache aufweist, ist im Museum rekonstruiert.
SPHINX - SIRENE
Die islamische Sphinx ist keine Neuschöpfung, sondern geht auf vorislamische Vorbilder zurück. Dem mit Flügeln versehenen Körper eines Löwen sitzt ein meist weiblichen Menschenkopf auf, häufig mit langem zur Seite herabfallenden Haar. Vielfach trägt die Sphinx auch eine Kopfbedeckung, die meist die Form einer Krone aufweist.
Die frühesten islamischen Sphingendarstellungen finden sich auf ägyptischen Textilien des 8.- 9. Jahrhunderts, möglicherweise beeinflußt von vorislamischen ägyptischen Darstellungen, die noch im späteren Mittelalter bekannt waren.
Im 12. und 13. Jahrhundert gehört die Sphinx dann einzeln, paarweise oder in größeren Tierszenen zum figürlichen 'Standardprogramm' islamischer Kunst. Besonders beliebt sind sog. Tierprozessionen, in denen sich u.a. Sphingen und Greifen verfolgen.
Sphingen kommen vor allem auf Metall- und Keramikobjekten, aber auch auf Stoffen sowie im Stuck- und Steindekor vor, dagegen fehlen sie fast völlig in illustrierten Handschriften.
In höfischen Szenen ist die Sphinx als 'Thronwächter', d.h. als herrscherliches Machtsymbol aufzufassen, während ihr in anderem Kontext auch eine unheilabwehrende oder astrologisch-magische Bedeutung zukommen kann.
Die islamische Kunst kennt auch das menschenköpfige Vogelwesen, das formal weitgehend mit der aus der klassischen Antike bekannten Sirenen-Darstellung übereinstimmt. Für dieses Fabeltier existieren in der islamischen Überlieferung verschiedene Namen mit einer nicht klar abzugrenzenden bildlichen wie inhaltlichen Tradition.
Der Körper der Sirene kann einem Papagei, einem Pfau oder einer Ente gleichen, während Kopfbedeckung und Haartracht die Mode der Zeit widerspiegeln. Die Flügel enden gewöhnlich in Floralmotiven oder in Drachen- bzw. Tierköpfen.
Im 12. und 13. Jahrhundert erreicht die Verbreitung der Sirene ihren Höhepunkt, die Übernahme neuer figürlicher Motive im Zuge der Mongoleneroberungen, speziell die Aufnahme von Drache und Simurg in das Repertoire islamischer Kunst, führt aber zu einem relativ abrupten Ende nicht nur der Sirenen-, sondern auch der Sphingen- und Greifendarstellungen.
Der Sphinx vergleichbar besitzt die Sirene sehr unterschiedliche Bedeutungsebenen. Hat sie im höfischen Ambiente ebenfalls eine 'Thronwächterfunktion' mit imperialer Symbolkraft inne, so steht sie im astrologischen Zusammenhang in enger Verbindung zum Tierkreiszeichen 'Zwillinge' und übernimmt in deren Darstellung nach und nach den Platz der menschlichen Figur.
DOPPELADLER
Der doppelköpfige Adler, Doppeladler oder in der älteren Literatur auch Doppelgreif genannt, ist formal als symmetrische Verdoppelung eines im Profil dargestellten Adlers anzusehen.
Doppeladler sind grundsätzlich frontal dargestellt, nur die beiden nach außen gewandten Köpfe sind im Profil wiedergegeben, wobei im Hals-Kopf-Bereich Unterschiede im Detail bestehen.
Die ältesten datierten Darstellungen sind um die Mitte des 12. Jahrhunderts auf Münzen der Zengiden, einer Lokaldynastie in Nordmesopotamien, bezeugt.
Gegen Ende des 12. und am Beginn des 13. Jahrhunderts etabliert sich dann der Doppeladler auch in der Keramik, auf tauschierten Metallarbeiten sowie im Baudekor an Wandfliesen und Steinreliefs, vor allem aber auf kostbaren Seidenstoffen.
Eine Doppeladlerfliese mit der Devise "as-sultan" (ein herrscherlicher Ehrentitel) auf der Brust, die im Sommerpalast des Seldschuken-Herrschers `Ala' ad-Din Kaiqubad (1219-37) in Zentralanatolien gefunden wurde, gibt den entscheidenden Hinweis, daß der Doppeladler, wenn nicht als Wappen dieses Herrschers, so doch als imperiales, dem Herrscher vorbehaltenes Machtsymbol zu gelten hat.
Eine solche Deutung trifft auch auf zahlreiche großformatige Steinreliefs mit Darstellungen von Doppeladlern zu, die als imperiale Machtsymbole der Bauherrn verschiedene Stadtmauern und Zitadellen schmücken.
Außerdem kann dem Doppeladler u.U. eine kosmisch-gestirnsmythologische Bedeutung zukommen, angezeigt durch eine kleine Sichel am Übergang vom Körper zum Schwanzgefieder sowie durch Drachenköpfe an den Schwingen.
EINHORN/ QILIN
Das Einhorn stellt in der islamischen Kunst ein komplexes Mischwesen dar, das nicht nur verschiedene Namen besitzt, sondern auch unterschiedliche, zum Teil stark von einander abweichende Bildüberlieferungen aufweist.
Häufig ist das islamische Einhorn, Karkadann (Rhinozeros) genannt, als geflügelter Vierfüßler mit einem meist geraden Horn auf der Stirn dargestellt. Dabei spielt keine Rolle, ob der Körper einem Pferd, einem Löwen, einer Antilope oder einem anderen Vierfüßler ähnelt.
Wie für andere Fabelwesen sind erst seit dem 12. bzw. 13. Jahrhundert zahlreichere Darstellungen belegt, wobei häufig weitere Tiere oder Fabelwesen zusammen mit dem Einhorn in sog. Tierverfolgungen auftreten.
Besonders beliebt ist die Darstellung des Einhorns, das einen Elefanten jagt. Diese Szene, der eine literarische Überlieferung zugrunde liegt, findet sich auf verschiedenen Objekten des Kunsthandwerks ebenso wie auf glasierten Wandfliesen. Als großformatiges Marmorrelief hat diese Darstellung auch die Stadtmauer von Konya, ehemals Hauptstadt der anatolischen Seldschuken, geschmückt.
Die islamische Kunst kennt ein weiteres gehörntes Fabeltier, das sich von dem Einhorn deutlich unterscheidet. Es handelt sich um das aus China übernommene Qilin, das durch den Körper eines Hirsches, Ochsenschweif, Pferdehufe, Schuppen eines Fisches und ein einziges, ganz fleischüberwachsenes Horn gekennzeichnet wird.
Der Legende nach soll es 1000 Jahre alt werden, es zertritt keinen Käfer, noch tritt es jemals auf grünenden Rasen. Als eines der vier Zauberwesen der antiken chinesischen Mythologie gilt es als Verkörperung von Friedensliebe und Güte.
Das Qilin hat wie der Simurg am Ende des 13. und im 14. Jahrhundert Eingang in die islamische Kunst gefunden, wohl ebenfalls im Zuge der mongolischen Eroberungen.
Große Beliebtheit erlangt die Qilin-Darstellung seit dem 16. Jahrhundert in den Randmalereien verschiedener literarischer Werke, wo es zusammen mit anderen realen Tieren oder Fabelwesen auftritt.
Auch in der farbigen Wandmalerei der Holzverkleidung des Aleppo-Zimmers (1600-01), das sich heute im Pergamonmuseum befindet, ist das Qilin-Motiv zu finden. Es muß in dieser Zeit recht beliebt gewesen sein, da es mehrfach vorkommt, sowohl isoliert als auch im Kampf mit einem geflügelten Löwen.
Die Bedeutung des Qilin in der islamischen Kunst ist bisher noch nicht im Detail untersucht worden.
BURAQ
Das menschenköpfige Reittier des Propheten (al-Buraq), mit dem dieser seine visionäre 'Nachtreise' und spätere Himmelfahrt unternimmt, ist ein spezifisch islamisches Mischwesen, für das keine exakten Vorbilder existieren.
Während der Koran in Sure 17,1 nur von einer nächtlichen Reise Mohammeds ohne Erwähnung eines Reittieres spricht, ist es bereits in der ältesten erhaltenen Propheten-Biographie des Ibn Ishaq (gest. 768) erwähnt. Hier wird es als geflügeltes, weißes Tier beschrieben, dessen Aussehen zwischen einem Esel und einem Maultier liegt.
Den unterschiedlichen literarischen Beschreibungen des Buraq entsprechen die verschiedenen überlieferten bildlichen Darstellungen, die sich auf Illustrationen historischer und religiöser Texte beschränken.
Die früheste bekannte Buraq-Darstellung entstammt einer Weltgeschichte vom Beginn des 14. Jahrhunderts und ähnelt eher einem Kentaur als einer Sphinx. Es besitzt einen weiblichen Oberkörper mit Armen und der Schweif des Tieres endet in einer zweiten gekrönten Figur, die Schild und Schwert in den Händen hält (siehe Zeichnung).
Diese Details fehlen bei allen späteren Buraq-Darstellungen, die sich seit dem 16. Jahrhunderts in zahlreichen weltlichen wie religiösen Schriften finden.
Das Reittier des Propheten wird jetzt als feingliedriges menschenköpfiges Pferd wiedergegeben.
Oftmals wird das Buraq zusammen mit Engeln dargestellt, wobei eine Angleichung des Buraq an die Engel hinsichtlich Gesicht, Kopfbedeckung und Schmuck vorgenommen wird. Mit diesen Attributen soll das Reittier des Propheten von normalen Tieren abgegrenzt und in Nähe himmlischer Wesen gerückt werden.
(Der hier wiedergegebene Text ist weitgehend identisch mit den ausführlichen Texten, die als Grundlage dienten für die Wandtafeln der Sonderausstellung "Drache, Phönix, Doppeladler: Fabelwesen in der islamischen Kunst. Berlin 1993", die im Museum für Islamische Kunst in Berlin-Dahlem von Oktober 1993 bis April 1994 gezeigt wurde.)